Wednesday, June 16, 2010

Simone Westerwinter, Sweet Structures - homemade

Simone Westerwinter, Sweet Structures -detail- 2010, Foto: Juergen Altmann, Make-up und Haare: Heiko Palach, Model: Val c/o ammodelmanagement.com, Postproduktion: Ramona Reuter

Simone Westerwinter beschäftigt sich in ihrem medial weit gespannten Werk – seit Ende der 1980er Jahre umfasst dies Bilder, Objekte, Skulpturen, Videos, Regieperformances sowie temporäre Projekte mit Musikern und Schauspielern – mit den Strukturen und dem ›Relief‹ zeitgenössischen Bewusstseins. Wie prägt sich das musterhafte Relief unserer Wahrnehmung den Phänomenen der Gegenwart auf? Und wie wird unser Denken in Polaritäten von Struktur versus Chaos, Ordnung versus Unordnung, Perfektion versus rohe Nachlässigkeit aus den Phänomenen selbst heraus ansichtig? Hineingestellt in diese Polarität involvieren Westerwinters Arbeiten Kunstwerk und Betrachter in eine Entscheidungssituation: das Kunstwerk als Entscheidungsplastik.
WS-Sms ist die Abkürzung für eine der Werkgruppen, an denen Simone Westerwinter seit 1990 arbeitet: ›Weltmacht Sex – Schönheit muss sein‹. Parallel dazu hat die Künstlerin an einer Werkgruppe mit karierten Mustern gearbeitet, zusammengefasst unter dem Titel ›Erziehung durch Dekoration‹. Hier nimmt Westerwinter Muster unserer täglichen Erfahrungswelt und Ästhetik auf, um die Ambivalenz von Ordnung und Unordnung sowie die Analogie von visuellen und Bewusstseins-Mustern (umgangssprachlich ›kariertem Denken‹) zu untersuchen. Die Nähe zu den JA-Arbeiten liegt in dem betont ›positiven‹ Charakter, der gleichwohl das Abgründige sprachlicher Raster wie jeder genormten Struktur offenbar werden lässt.

»Der Umgang mit Kunst vollzieht sich grundsätzlich ornamental, in meinen Worten: kariert oder mit dem Untertitel aller Arbeiten zu diesem Thema: ›Erziehung durch Dekoration‹. Wenn ich über Avantgarde nachdenke, stelle ich mir gerne die Schwelle vor, an der Kunst von Nichtkunst unterschieden wird. Denn die neueste Kunst muss doch vor allem wie KEINE Kunst oder zumindest wie schlechte Kunst aussehen, oder? Sie versucht einen Neubeginn – bei NULL oder ZERO. Etwas wird aber erst erkannt, wenn eine Ordnungsstruktur gegeben ist, in die wir es einordnen können – weil wir musterhaft wahrnehmen, begreifen und schön finden. Beim ersten Auftreten und noch NULL-sein setzt das künstlerische Werk den Prozess seiner Wahrnehmung in Gang, d.h., es wird veröffentlicht, reproduziert, multipliziert. Und mit diesem ersten frontalen Auftauchen ist auch schon der Keim zu seinem ornamentalen Gebrauch, im Extremfall zu seinem Untergang – dem visuellen und gedanklichen Verbrauch – vorausbestimmt.« (Simone Westerwinter, 2001)
Über die Skulptur und Performance ›Sweet structures, homemade‹, mit welcher Simone Westerwinter in der Ausstellung ›Superfemmes‹ vertreten ist, thematisiert die Stuttgarter Künstlerin »die Gleichzeitigkeit von Gegensätzlichem: an einem Markstand im Ausstellungsraum kann der Besucher sich entscheiden. Entweder wählt er frisch zubereitete Zuckerwatte, oder er lässt sich von der Künstlerin ein schillerndes Hämatom schminken. Die unterschiedlichen Aktionen veranschaulichen  damit zwei widerstrebende Erfahrungen des Lebens. Manchmal ist es ein Geschenk, fast klebrig-süß wie das Zuckergespinst am Jahrmarktstand, dann hat es wiederum die Härte eines Faustkampfes. Und wenn man genau hinschaut sieht man, dass es nur eine Fälschung ist.
Simone Westerwinter nimmt in ihrer Performance mit einem Boxhandschuh am Auge des Besuchers vorsichtig Maß. Daraufhin zeichnet, malt und tupft sie in dessen Gesicht ein ›Veilchen‹ als Trophäe. Das Vertrauen, sich auf die Kunst einzulassen wird belohnt, mit einem Make-up-Gemälde – irisierend schön wie die Zeichnung einer Pfauenfeder und zugleich mit der Anmutung einer verstörenden Deformation. Sie kehrt damit den Gebrauch der Mittel um. Was ursprünglich für lockende Schönheit benutzt wird, wird von ihr, widerspenstig, gegen die Vorgaben verwendet. Die Utensilien wenden sich gegen sich selbst.
Sexyness und Entstellung gehen ineinander über. Gute Absichten paaren sich mit fragwürdigen Hintergedanken. Wie bei einem Blind Date weiß man nicht genau worauf man sich einlässt. Darin liegt die Versuchung. Es kann schön werden, aber es kann auch hässlich werden. Doch die Aktion stimmt versöhnlich. Wenn man sich drauf einlässt, kommt man letztlich mit einem falschen blauen Auge oder etwas echt Süßem davon.« (Valérie Hammerbacher)
Dr. Renate Wiehager